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Däne im Herzen

25 lange Jahre waren es. Ich kenne es kaum anders. Mit 14 Jahren zog ich nach Dänemark. Allein, denn ich sollte mein 9. Schuljahr auf einer Efterskole durchführen. Es blieb nicht dabei. Aus einem Jahr wurden zwei. Dann zehn, zum Schluss 25. Es ist also kein Wunder, dass ich mich als Däne im Herzen betrachte.

Heute lebe ich wieder in Deutschland. Ich merke, dass ich mich unwohl fühle. Das Gefühl ist schwer zu beschreiben, aber mit diesem Artikel möchte ich es dennoch versuchen. Der Alltag fühlt sich anders an. Kleinteilig. Als würde ich immer gegen unsichtbare Wände laufen. Da sind einfach kulturelle Besonderheiten, welche ich als Däne im Herzen mitgenommen habe. Und es sind einige der selben Besonderheiten, welche mich hier anecken lassen.

Aber ich muss auch gestehen, dass es nicht nur um Dänemark geht. Nein, ich war über viele Jahre auch Mitglied in Tvinds Lehrergruppe. Ich habe also in einem Kollektiv gelebt, wie es kollektiver kaum geht. Auch das hat meine Zeit in Dänemark wesentlich geprägt.

Auf Durchreise in Odense

Das hier wird mal kein Ratgeber. keine Unterrichtseinheit. Es sind einfach Reflektionen zu meiner Lebensreise, in welcher Dänemark und kollektives Leben eine maßgebliche Rolle gespielt haben. Es ist der Versuch zwischen den unterschiedlichen Polen meiner geteilten, kulturellen Identität zu navigieren.

Warum ich Däne im Herzen bin, obwohl ich in Deutschland lebe

Während meinen 25 Jahren in Dänemark habe ich an unterschiedlichen Orten gelebt. In Bogense, einer kleinen Stadt im Norden der Insel Fünen. Dann in Ulfborg, direkt an der Westküste, zwischen Ringkøbing und Holstebro. Für eine Zeit lang in Skælskør, unweit von der Brücke über den Großen Belt.
Und in Faxe, im Süden Seelands, direkt an der Ostsee.

Aber es geht nicht um Orte, sondern eher um Qualitäten. Es gibt Dinge, die ich hier in Deutschland vermisse, welche in Dänemark so selbstverständlich waren.
Da sind zum Beispiel die Offenheit für neues, den Pragmatismus und die flachen Hierarchien. Das sind Qualitäten, welche ich bei den deutschen sehr schmerzlich vermisse. Oft habe ich das Gefühl, dass ich für jede noch so kleine Veränderung oder Verbesserung bis aufs Blut kämpfen muss.
Dass ich immer gegen Strukturen argumentieren muss, statt pragmatische Ansätze für konkrete Probleme zu finden.

Dann ist da natürlich die deutsche Bürokratie, welche mich zum Verzweifeln bringt. Wenn man so lange in Dänemark gewohnt hat, gewöhnt man sich daran, dass man einfach so zum bürgeramt gehen kann oder die meisten Behördengänge einfach online erledigen kann.

Und ich finde es viel schwerer, Einklang mit meinen Kollegen zu finden. Die Gespräche bleiben oberflächlich. Es war normal für mich, auch außerhalb der Arbeit soziale Beziehungen mit Kollegen zu führen. Einige meiner besten Freunde waren auch meine engsten Kollegen und sogar Vorgesetzte. Hier scheint es mir sehr schwer diese Art von Bindung aufzubauen.

Dieser Teil der dänischen kulturellen Identität ist auch Teil meiner kulturellen Identität geworden. Deshalb bin ich Däne im Herzen. Und deshalb ecke ich immer wieder an die deutsche Kultur und Mentalität an, obwohl ich hier lebe und sogar geboren wurde.

Mein Leben im Kollektiv ist auch Teil meiner Identität

Dies ist mir erst im Laufe der letzten Monate so richtig bewusst geworden. 15 Jahre lang, war ich in Tvinds Lehrergruppe. Über diesen Teil gäbe es noch viel zu schreiben, aber das hebe ich mir für ein anderes Mal auf. Es reicht hier zu Erwähnen, dass ich mich dadurch in ein sehr kollektivistisches Leben begeben habe. Ich war Teil einer Gemeinschaft, welche unglaubliche politische Arbeit leistet und geleistet hat.

Bei einer Wartungsaktion von Tvindkraft.

Da wäre der Bau der einst größten Windkraftanlage der Welt. Oder revolutionäre, pädagogische Konzepte, welche auch heute noch maßgeblich meine pädagogische Arbeit prägen. Und unzählige Entwicklungshilfsprojekte oder kommerzielle Aktivitäten, um ebendiese zu Unterstützen.

Manchmal vermisse ich es, politische Arbeit zu leisten und Teil von etwas größerem zu sein, was viel mehr als nur materielles Streben beinhaltet.

Doch das Leben im Kollektiv hat einiges von mir gefordert. Es war nicht immer leicht, Konsens mit anderen zu finden. Und oft bin ich weit über meine Grenzen gegangen, im Dienste der Gemeinschaft. Letzten Endes haben verschiedene persönliche Umbrüche bei mir zu meiner Entscheidung geführt, das kollektiv zu verlassen. Aber ich bereue es nicht, auch wenn ich es wahrscheinlich nicht wieder machen würde.

Es gibt einige Sachen welche ich aus meinem Leben im Kollektiv vermisse.

Zugehörigkeit & Tiefe.
Während ich im Kollektiv lebte, waren immer Menschen in meiner Nähe. Ich sah sie beim Frühstück, bei Gemeinschaftsaktionen, oder ich lief ihnen einfach so über den Weg. Dabei fanden auch öfter tiefe Gespräche statt. Nicht, weil wir sie geplant hatten, sondern weil wir uns immer wieder trafen. Kontinuität hat eine eigene Wärme. Das ist etwas, was ich seitdem in Deutschland außer bei meiner Partnerin nicht mehr erlebt habe.

Kollektive Entlastung.
Wenn man Kollektiv lebt, kann man auch vieles an die Gemeinschaft auslagern. Im Alltag gabe es viele Dinge, um die ich mich nur selten kümmern musste. Einkauf, Finanzen und Strukturen zum Beispiel. Ja, man hat auch viel Souverenität an die Gemeinschaft abgegeben. Aber dafür war es auch Stressfreier. Die Kehrseite ist, dass ich erst seit meiner Rückkehr nach Deutschland gemerkt habe, wie viel Energie diese Alltagsaufgaben eigentlich verbrauchen.

Es ist nicht nur Heimweh

Es ist eher diese Reibung bei der ich mich fremd fühle.
Strukturen, die sich weniger durchlässig anfühlen, weniger spontan. Dinge, welche unheimlich komplizierter und bürokratischer wirken, als sie es sein sollten. Eine Mentalität, welche der Warmherzigkeit, der Offenheit und dem Pragmatismus der Dänen wenig entgegensetzen kann.

Vielleicht sind das nur Ausschnitte von Deutschland, welche mich hier frustrieren. Aber es sind halt meine Ausschnitte. Ich reibe mich an ihnen, weil ich mich im Herzen als Däne fühle.
Gleichzeitig treffen diese Auseinandersetzungen auf eine Lebensphase, welche eh schon schwierig ist.
Finanzielle Sorgen, Neubeginn, und unzählige Projekte welche eine Emotionalität von mir einfordern, die sich kaum in Worte fassen lässt.

Ich habe bewiesen, dass man auch nach 25 Jahren wieder neu anfangen kann. Aber trotzdem habe ich manchmal Angst, dass dieses neue Fundament nicht stabil genug ist. Und dann Frage ich mich, ob mir die Kräfte ausgehen. Ob ich dann noch einmal neu anfangen könnte. Ich weiß, dass es geht. Aber Wissen allein trägt nicht an müden Tagen.

Der Däne im Herzen lebt weiter

Reine Nostalgie hilft mir nicht weiter. Ich habe akzeptiert, dass ich immer ein Däne im Herzen sein werde. Mein altes Leben in Dänemark und im Kollektiv waren Heimat und Hülle. Sie gaben Wärme und Sinn, aber auch Enge und blinde Flecken. Es ist okay, beides zu sehen. Ich muss nichts idealisieren, um dankbar zu sein. Ich muss nichts abwerten, um Grenzen zu ziehen.

Ich werde wohhl immer Däne im Herzen sein.

Aber ich kann meine dänische Seite dennoch ausleben. Zum Beispiel durch meinen Sprachunterricht. Durch kleine Rituale im Alltag. Durch weiterführung der pädagogischen Praxis, welche mir so nahe liegt. Und indem ich mit meiner dänischen Art auf die Menschen um mich herum zugehe. Manchmal bedeutet das, dass mein Humor zu sarkastisch für die Almans ist. Aber das ist okay. Manchmal kann ich sogar demonstrieren, dass man Probleme auch pragmatisch und ohne große Bürokratie angehen kann.

Kleine Praktiken, die mir gerade helfen

Für diese Großen Gefühle habe ich auch keine Patentrezepte. Aber ich habe ein paar kleine Praktiken, die mir helfen.

1) Die eigene politische Wirkung im Kleinen erkennen.
Politik beginnt nicht erst bei der großen Bühne. Verständis schaffen und Menschen zu besserer Bildung zu verhelfen ist politische Arbeit. Genauso wie mal beim Nachbarn vorbei zu schauen oder einen Brettspieltreff zu organisieren, der Menschen zusammenbringt. Gandhi sagte einemal: „Be the change you want to see in the world.“ Da ist was dran.

2) Heimat ins Zimmer holen
Oft schaue ich weiterhin dänisches Fernsehen. Ich lese Lokalnachrichten aus Faxe. Ich empfehle Orte an meine Schüler, die einen Besuch wert sind. Ich höre dänische Musik und Podcasts auf Dänisch.

3) Dänische Lockerheit an andere herantragen.
Das ist etwas, was ich z.B. viel mit meinen Schülern praktiziere. Pragmatismus statt steife Strukturen. Fehler verzeihen. EInen Witz machen. So wie ich es in Dänemark erlebt habe.

4) Hygge praktizieren
Das ture ich manchmal in kleinen Ritualen. Wenn ich selbstgemachte Koldskål und Kammerjunckere serviere. Oder ein bisschen Kim Larsen auf der Gitarre spiele. Das alles bringt meine Wahlheimat Dänemark etwas näher zu mir und meinen Liebsten.

Werde ich zurück nach Dänemark gehen?

Diese Frage kann ich noch nicht abschließend beantworten. Manches hängt von Dingen ab, die nicht nur in unserer Hand liegen. Vielleicht werden es erstmal kleine Erkundungen. Denn auch meine Freundin muss das Land erstmal kennenlernen. Dabei kann man verschiedenes ausprobieren. Alltag testen, Arbeit ausprobieren, Menschen wiedersehen.
Nicht aus Angst, sondern aus Respekt vor dem, was wir an Vergangenheit mit uns tragen.

Auf alle Fälle merke Iich, dass ich mich nicht zwischen zwei Heimaten entscheiden muss. Ich darf zwei Sprachen sprechen: die dänische Lässigkeit und die hiesige Gründlichkeit. Ich darf mir eine Peergroup suchen, die meinen Humor versteht, statt ein Land zu ändern. Ich darf Weite kultivieren, auch ohne Meerblick. Ich darf politisch wirken, ohne alte Organisationsformen zu wiederholen. Und ich darf zugeben, dass es Tage gibt, an denen das alles nicht reicht.

Vielleicht ist das die eigentliche Entwicklung: Qualitäten hüten, Orte ehren, Menschen wählen. Und mich selbst nicht verlieren.

Welche Qualität vermisst du am meisten, wenn du an „frühere Heimaten“ denkst – und wie könntest du sie diese Woche einmal berühren? Schreib es gerne in die Kommentare.

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