Die Kunst gute Dinge zu schätzen
Früh in meiner Karriere als Lehrkraft lernte ich eine Kompetenz, welche wichtiger war, als ich seinerzeit glaubte. Damals arbeitete ich noch in Dänemark, mit Schülern mit besonderen Bedürfnissen. Viele von diesen waren auch Neurodivers. An meiner Schule hatten wir eine besondere Tradition. Wir begannen jedes Meeting, welches wir hatte, egal in welchem Zusammenhang mit dem gleichen Punkt auf der Tagesordnung. Gute Geschichten.
Eine gute Geschichte konnte alles sein. Ein Ziel, welches erreicht wurde. Eine positive Entwicklung eines Schülers. Oder Anerkennung, welche wir für unseren unermüdlichen Einsatz von anderen erhalten haben. Manchmal war es auch das inklusive Event, welches wir auf die Beine gestellt haben, und wovon viele andere profitiert haben.
Damals stand ich dieser Tradition oft im Weg. Meine deutsche Eifrigkeit trieb mich dazu die Punkte auf der Tagesordnung abzuarbeiten, damit wir weitermachen konnten, wo wir aufgehört hatten. Manchmal nahmen meine Kollegen das zum Anlass, um mich zu ärgern. Aber ich konnte ja nicht wissen, wie wichtig diese Tradition eigentlich war.
Gute Dinge hervorzuheben wird von manchen oft als toxische Positivität dargestellt. Als wenn man versucht die Probleme zu kaschieren, indem man gute Dinge hervorhebt, egal wie beschissen eine Situation gerade ist. Ich gehörte wohl zu dieser Gruppe Menschen.
In unsere Arbeit gab es ja wohl genug ernsthafte Probleme zu bewältigen. Von der globalen Situation einmal abgesehen. Unser Planet versinkt im Klimachaos, es gibt immer mehr Therapiebedürftige Menschen und egal wo man hinschaut, scheint es nur Baustellen zu geben. Da hilft es nicht den Optimisten zu spielen. Aber heute weiß ich, dass es nicht ganz so einfach ist.
Unsere Wahrnehmung verzerrt sich ins negative
Nobelpreisträger Daniel Kahnemann beschreibt in seinem Bestseller “Schnelles Denken, langsames Denken“, wie sich tief verankerte Gedankenmuster sich auf unsere Fähigkeit auswirken, Entscheidungen zu treffen.
Eines dieser Gedankenmuster ist unsere Voreingenommenheit zum Negativen. Kurz gesagt gewichten wir negative Details und Erfahrungen höher, als positive. Ebenso besitzen wir den sogenannten Bestätigungsfehler. Dieser bewirkt, dass wir oft unbewusst Informationen auswählen und interpretieren, damit sie mit unserer Sichtweise übereinstimmen. Aber unsere Sichtweise ist oft eher negativ geprägt. Diese beiden Gedankenmuster können sich also verstärken.
In diesem Licht betrachtet, macht die oben beschriebene Tradition Sinn. Sie zwingt uns innezuhalten, um bewusst die positiven Merkmale herauszufinden. Dadurch erhalten wir oft eine realistischere Sichtweise auf unsere Situation.
Wenn wir nur auf die negativen Dinge fokussieren entgehen uns wichtige Details. Nämlich die Details, die uns Potenzial für positive Entwicklung aufzeigen können. Dies ist nicht nur wichtig in der Arbeit mit marginalisierten Kindern und Jugendlichen. Sondern auch mit der Arbeit an uns selbst. Um unser Selbstwertgefühl zu stärken, müssen wir lernen die kleinen Erfolge zu feiern.
Entwicklung ist ein Langwieriger Prozess
Die meisten Entwicklungsprozesse sind Langwierig und erscheinen uns oft viel zu Langsam. Dabei ist es nicht von Bedeutung, ob wir über unsere eigene Entwicklung reden, oder über die von Menschen, welche wir betreuen oder lieben. Diese Weisheit gilt auch für tiefgreifende Veränderungsprozesse in der Gesellschaft. Die kleinen Schritte, welche zum Erfolg führen, werden oft vergessen.
In vielen Fällen passiert es sogar, dass ein Entwicklungsprozess ein Plateau erreicht. Es geht nicht mehr weiter. Andere Male erreichen wir Kippunkte, wo radikale Veränderungen passieren. Aber diese Kippunkte werden durch viele kleine Prozesse erreicht, welche über Zeit akkumulieren. Und nur wenn wir die kleinen Veränderungen bemerken, können wir diese Kippunkte auch abschätzen und beeinflussen.
Jeden Tag aufs neue sind wir mit dem Kampf für eine positive Zukunft beschäftigt. Im beruflichen, wie im privatem. Diesen Kampf müssen wir immer führen, mit allen Werkzeugen, die uns zur Verfügung stehen. Wenn wir die Kunst erlernen, die kleinen Erfolge zu sehe und zu feiern, haben wir ein sehr mächtiges Werkzeug an der Hand. Es kann auch in den dunkelsten Augenblicken die Kraft geben, weiterzukämpfen.
Ich habe beschlossen, trotz meines früheren Widerstands, dieses Werkzeug auf meinen zukünftigen Weg mitzunehmen.
Übungen zum Erlernen der Kunst gute Dinge zu schätzen
Zum Schluss gibt es noch ein paar Übungen, welche ihr nutzen könnt, um die guten Dinge mehr zu schätzen wissen.
- Überlegt euch jeden Tag, was euch an diesem Tag gelungen ist. Kein Erfolg ist zu klein um nicht gefeiert zu werden
- Führt ein Dankbarkeitsjournal
- Bleibt an einem beliebigen Zeitpunkt stehen, und denkt darüber nach, was an eurer jetzigen Situation positiv sein könnte
- Beginnt Besprechungen auf Arbeit mit guten Geschichten
- Überlegt euch, welche positiven Entwicklungen sich in den letzten paar Monaten in eurem Leben getan haben.
- Wechselt eure tägliche Nachrichtendosis mit einer Prise Good News aus.
Schreibt auch gerne eure Erlebnisse, Erfahrungen und Tipps zum Thema in den Kommentaren.